Hemmes mörderischer Kick
Neben Hecklaus heruntergekommener Eck-Kneipe befand sich im Erdgeschoß ‑außer dem Kino in der oberen Etage- noch eine Konsum-Verkaufsstelle. So kam es, daß auf der Rückseite der Verkaufsstelle jede Menge Verpackungsmaterial, wie Getränkekästen und Pappkartons, herumlagen. Wir ‑meine Kumpel und ich- vertrieben uns die Zeit bis zur Öffnung der Kinokasse, indem wir mit leeren Kartons herumbolzten und sie uns elegant tänzelnd zuschoben. Nach einiger Zeit des Spielens schob sich Hemme um die Ecke. Hemme war furchtbar stark – so stark, daß sich seine Arme immer von selbst vom Körper abspreizten. Aus diesem Grunde hatte er Schwierigkeiten, durch Türen zu gehen, da er seitlich hängen blieb. Selbst das Tor, das zum gemeinsamen Hof von Kino, Kneipe und Konsum führte und das für große, dicke Pferde mit jeder Menge Bierfässer auf einem Wagen bemessen war, selbst dieses Tor war fast nicht weit genug für ihn. Jawohl – so stark war Hemme.
Mit der Höhe dagegen hatte er niemals Probleme – obwohl ihm Schuhmachermeister Cain vom Denk-malsplatz stets Western-Absätze unter seine Schuhe nagelte und er somit auf Einsvierundsechzig kam. Die Elvis-Haartolle inbegriffen. Aus diesem Grunde neigte Hemme seinen Kopf immer ein wenig nach vorn, wenn er durch eine Tür ging, um oben nicht anzustoßen.
»Eh, Hemme – los knall mit!»
Er grinste geschmeichelt, wobei er sich bemühte, wie Elvis seinen rechten Mundwinkel fies nach oben zu ziehen und gurgelte die gesamte Hälfte seinen Englischwortschatzes – Ollreid, Boys! (Die andere Hälfte lautete Ogeh, Görls!). Nachdem er extrem lässig seine Casino oder Turf zwischen seinen Zähnen heraus nahm ‑wobei er Daumen und Mittelfinger zu einem Ring krümmte- schnippte er sie hoch in die Luft, um die Kippe beim Herabfallen mit dem Hacken wegzukicken. Immerhin, das Schnippen gelang.
Während noch die Kippe auf dem Boden kullerte, zeigte er uns, wie man richtig kickt und unsere Bolzerei ging weiter – wobei man sich vor Hemmes wie Windmühlenflügel kreisenden Armen in Acht nehmen mußte.
Während dieses Prozederes hatte ein Kumpel Hemmes, der ‑trotz aller bestehenden Freundschaft- noch eine offene Rechnung beglichen haben wollte, zwei Pappkartons wie unabsichtlich mit den Fuß-Innenseiten nebeneinander geschoben und bei passender Gelegenheit Hemme zum Duell in Sachen Zielschießen herausgefordert: Los – ins Kellerfenster! Zuerst nahm der Herausforderer Anlauf, kickte und – einer der Kartons flog weit am Ziel vorbei, genauso, wie beabsichtigt.
Hemme bleckte herablassend seine obere rechte Zahnleiste und versuchte, lässig über seine eigene Schulter zu spucken. Aber der Wind stand ungünstig. Nachdem er sich seine Spucke vom Schulterpolster seines großkarierten Sakkos gewischt hatte, nahm Hemme breitarmig Anlauf und knallte seinen Fuß gegen den zweiten Karton: Aauuuaaahh!… – Auaah! … Du Sau! … Du Russe!! Sein Pappkarton flog nicht ganz so weit – weil mit diesem und von ihm verdeckt, auch ein mit Asche gefüllter Eimer durch die Luft wirbelte. Und sonst? Heklaus Kino, der Dorfplatz samt Linde, ganz Siersleben lagen tagelang unter einer Aschewolke.
Rilles Extrastarke
In der Zeit nach Kriegsende trugen wir Kinder oftmals Kleidungsstücke, die eigentlich nicht für uns gefertigt waren. Und wenn doch, dann fast immer aus alten, umgearbeiteten Klamotten. In vielen Haushalten hing noch Friedensware – die Anzüge und Mäntel des Vaters, die dieser nie mehr im Leben brauchte; er besaß ja Keines mehr. Und so einfach mal neue Kleidungs kaufen, ging nur sehr beschränkt.
Auch ich trug damals eine alte, dunkelblaue, viel zu große, sogenannte Ski-Hose, die meinem Vater gehörte, der kein Soldat gewesen war, sondern die Kriegsjahre untertage arbeitete um das Kupfer abzubauen, welches übertage, mit Zinn gestreckt, vom Ural bis zum Atlantik über das Land verstreut wurde. Meine Dunkelblaue wurde von einem Gürtel am Herabfallen gehindert und der Hintern hing sehr weit unter den Kniekehlen. 1952/53 sah man damit genau so lächerlich aus, wie heute, wo solcherart Hosen schon lange hipp sind. Hopp her.
Rille, einer meiner Kinderkumpel, hatte genau dasselbe Problem der zu weiten Hose. Er allerdings ließ die Seine tragen – von Hosenträgern. Diese waren Wehrmachtsgut und trugen auf den Nickel-Verstell-Dingern eine Prägung: EXTRA STARK (der Patentvermerk befand sich auf der Rückseite: D.R.P.) Und sie waren nicht nur extrastark, sondern mit einem knappen Viertelmeter auch noch extrabreit.
Rille und ich waren am sogenannten Kriegsgraben unterwegs und kletterten von dort auf die Halde des Eduardschachtes. Wir stromerten gern hier oben auf den Hohlen rings um Siersleben herum und suchten nach Fischabdrücken. Dazu spalteten wir uns geeignet erscheinende Schieferplatten um auf deren Spaltflächen nach Abdrücken von Fossilien zu fahnden, die so selten nicht waren. Die Schönsten davon stapelten wir zu Hause, wo schon andere, vom Vater von untertage mitgebrachte Steine und Mineralien in Kisten lagerten.
Wir stromerten zwischen alten Stellungen und Unterständen der Wehrmacht herum, als Rille begann, mehrere Händevoll Gras auszurupfen, sich in einem Unterstand einen Platz auszusuchen, um das zu tun, was wir abprotzen nannten. Diesen Ausdruck hatten wir von Kriegsteilnehmern aufgeschnappt (er war auch später, als ich in der NVA diente, immer noch gebräuchlich).
Rille protzte also ab und begann, das abgerissene Gras seinem beabsichtigten Verwendungszweck zuzuführen. Fertig.
Er stand er auf und griff mit seinen Händen kreuzweise zu den Hüften, um die Hosenträger zu fassen und sie über seine Schultern zu heben. Allein – die extrabreiten Extrastarken wollten nicht und Rille mußte kräftiger an ihnen ziehen. Was er dabei nicht bemerkte, war, daß er mit dem Schuhabsatz auf einem der Extrabreiten stand. Rille, du bist ein Dutz!
Durch Reden mit mir abgelenkt, zerrte er an den Gummis und schaffte es schließlich, sie unter seinem Schuh hervorzureißen. Flipp – Die Hosenträger schnellten mit doppelter Schallgeschwindigkeit hoch, wobei sie eine Ladung dessen mit nach oben rissen, welches Rille unbemerkt und ungewollt auf einem der Träger abgelegt hatte. Klatsch! – Rilles Wange und Hals sahen aus, wie frischer Lehmputz und sein Ohr war bis hin zum Trommelfell verstopft. Gerüchte, wonach auch aus dem anderen Ohr ein kleines Würstchen hervorlugte, kann ich nicht bestätigen.
Der falsche Ewester
So gut wie alle über Land führende Straßen und Wege rings um Siersleben waren von Obstbäumen gesäumt: Etwas seltener Äpfel und Birnen, etwas mehr Pflaumen und am häufigsten Kirschen. Diese Bäume konnten von den Gemeinden als Einzelexemplar oder auch gleich straßen‑, oder kilometerweise gegen einen geringen Obolus gepachtet werden. Kurz nach dem Krieg war die Pacht der Pracht besonders begehrt, versprach doch der Verkauf der Ernte eine beachtliche Aufstockung des verfügbaren Budgets – wenn auch nur während der Erntezeit. Aber auch damals waren bereits die richtigen Beziehungen erforderlich, um sich als Ewester (Öbster) bezeichnen zu können – Die Bezeichnung, mit der die Pächter umgangssprachlich bezeichnet wurden.
Unter uns Kinder grassierte die pure Angst vor den Ewestern. Sie galten als heimtückisch und kinderverprügelnd, vaterpetzend und polizeidrohend. Und das nur, weil man sich einen Mund, nun gut, manchmal auch mehrere Münder voll Kirschen gönnte. Na ja, hin und wieder stopfte man ein paar Pfund Kirschen zusätzlich unter das Hemd; aber das war ja nur ein kleines Kinderhemd. Und die Strafe folgte sowieso auf dem Abtritt. Öbster versteckten sich oft, um erst dann aus ihrem Versteck zu brechen, wenn man relativ ausweg- und hilflos auf seinem Baum festsaß.
Zum Bewachen ihrer Bäume hatten die meisten Öbster einen Schäferkarren oder einen Bauwagen am Straßenrand aufgestellt, in denen sie während der Erntezeit ihre Tage und auch die Nächte verbrachten. Im Innern der Wagen stapelten sich Körbe, eine Waage, Korbhaken, Sägen, rote Warnflaggen für aufgestellte Leitern und weiteres Werkzeug; die Leitern selbst lagen neben dem Wagen im Straßengraben. Hatte man Verlangen, das Obst zu kosten, war es angebracht vorher den Wagen genauestens zu inspizieren. Drängte sich Zigaretten- oder Pfeifenqualm aus den Ritzen? Schnarchte jemand? Lehnte in der Nähe irgendwo ein Fahrrad? Wenn alles frei von Gefahr schien, waren wir Dorfbengel eins-zwei-drei auf dem Baum. Manchmal aber war der Öbster schlauer als wir, ließ uns auf den Baum klettern und war dann schneller aus dem Häuschen auf Rädern als wir von den Bäumen. Da half es auch nicht, wenn wir »Mundraub, Mundraub« schrien ‑so, wie wir es aus den Kriegserzählungen unserer Väter verstanden zu haben glaubten- man wurde durchgeprügelt. An solch einer Öbsterbude kam eines Tages mein Vater mit seinem Fahrrad vorbei (daß die Silberhochzeit meiner Eltern bevorstand, hat an dieser Stelle nicht viel zu sagen, man braucht ja nicht unbedingt nassen Kuchen zur Feier). Genau neben dem Wagen pfiff die Luft aus einem Fahrradreifen, so daß Vater seufzend absteigen mußte, um Luft nachzupumpen.
Er klopfte laut an den Öbsterwagen um nach einer Luftpumpe zu fragen – allein, es ward ihm nicht aufgetan.
Aus Langeweile – er mußte nun auf die Luftpumpe eines vorbeikommenden Radfahresr warten, was in dieser einsamen Gegend schon etwas dauern konnte- stellte er eine Leiter an einen Pflaumenbaum und begann einen Korb mit blauen Bauernpflaumen zu füllen. Plötzlich, mitten im Pflücken hörte Vater ein »Glück Auf Kam’rad!«, das ihn fast von der Leiter stürzen ließ. Aber der so Grüßende fuhr bereits fort und fragte Vater, ob er ihm nicht einen Obstbaum verpachten könne, wo er doch die ganze Straße habe? Aber ja doch Kam’rad, gerne verpachte er einen Baum weiter; er solle sich einfach einen aussuchen und eine Leiter könne er sich auch nehmen. Was der Baum kosten solle? Naaa, sagen wir mal drei Mark; er möge das Geld einfach unter der Tür des Wagens durchschieben, er selbst könne jetzt nicht von der Leiter, weil er einen Scheißkrampf in der Wade (in’n Gnochen) habe.
Nachdem der Frager drei Mark unter der Wagentür durchgeschoben hatte und sich anschickte einen Baum auszusuchen, drehte Vater seinen Kopf wieder in die Normallage, denn während des Gespräches hatte er ihn immer ein wenig ‑wie ein Huhn- nach oben zwischen die Blätter gedreht, um ein eventuell später notwendig werdendes Erkennen zu erschweren. Der Korb war schnell gefüllt und Vater stieg wieder von der Leiter. Unten angekommen, stellte er fest, daß der Luftverlust des Fahrradreifens sooo schwerwiegend nun doch nicht war, so daß er versuchte, ob er weiterfahren könne. Es ging ziemlich gut, und sehr gut schmeckte einige Zeit später auch der Pflaumenkuchen zur Silberhochzeit.
Bürstenbinder in Not
Blind und mit weggeschossenem Mundwinkel war er aus Rußland nach Hause in die Verbindungsstraße zurückgekommen und als ob das nicht genügte, verrottete auch noch sein rechter Arm auf dem Feld der Ehre. Da war das bißchen Tuberkulose fast schon nicht mehr der Rede wert, deretwegen er auf Schloss Rammelburg im Rekonvaleszenz war.
Mühsam tastend erlernte er, in viele winzige Löcher fertig geschnittener Holzblöcke mit Hilfe einer einfachen Maschine und tastender Fingerspitzen kleine Bündel von Borsten einzuziehen. Bevor er als halbierter Mensch aus dem Feld zurückkehrte, arbeitete er als Zimmerling untertage und war den Umgang mit Säge und Beil als Broterwerb gewöhnt.
Seine derart gefertigten Besen, Bürsten und Handfeger holte einmal in der Woche ein Motorradfahrer ab, welcher allerdings seine beiden Augen noch hatte. Dieser Motorradfahrer trug eine fesche lederne Autokappe, welche beidseitig je eine kleine Lasche mit Druckknopf besaß, mit dessen Hilfe die Lasche einige eingestanzte Löcher über den Ohren verdeckt werden konnten und eine riesige Wehrmachts-Schutzbrille. Bei Regenwetter tauschte er die Schutzbrille gegen eine Regenbrille aus.
Er hatte sich diese aus zwei Kaffeesieben und einigen ‑von einem Fahrradschlauch abgeschnittenen Gummiringen- selbst gebastelt und sah damit wie eine Monster-Fliege aus.
Der Fliegenmann kam stets auf einer ur-russischen Molotow; ein Militärkraftrad mit Rückwärtsgang und feststellbarer Bremse, an das ein Lasten-Seitenwagen ‑groß wie drei Eisenbahnwaggons- montiert war. Dieses Geschoß verursachte einen unglaublichen Lärm, wenn es wie ein Panzer die Verbindungsstraße beratterte. Die Dorfhunde streckten entweder ihre schwarzen und braunen Steckdosennasen unter den Hoftüren hervor und kläfften wie toll oder sie verkrochen sich jaulend in den hintersten Hofecken.
Rußend, vibrierend, dampfend und knallend blieb die Teufelsmaschine vor dem Haus des blinden Bürstenmachers stehen. Der kühne Pilot verschwand mit Bündeln von Holzrohlingen im Hausflur des Bürstenmanns und kam nach wenigen Minuten mit dessen Arbeitsergebnissen einer Woche zurück, die er im Seitenwagen der Mörder-Molotow verstaute. Der Stücklohn verschwand in der Tasche des Blinden.
Klaus, einer meiner damaligen Spielkameraden, war der Sohn dieses blinden Bürstenmachers. Ich beneidete ihn ungemein, weil er einen Autoreifen besaß, den er mit einem Knüppel geschickt über die Straßen unseres Dorfes trieb – dieser Angeber. Wir spieltne oft Bus, bei dem ich mit einem Kinderwagenrad vor meinem Bauch der Busfahrer und er ein Rad war. Hin und wieder spielten wir auch Ami und Russe auf den Schattenmorellenbäumen hinter unserem Haus in der Klostermansfelder Straße. Das Spiel bestand ‑nicht ganz den Realitäten des Krieges entsprechend- darin, daß ein auf dem Baum sitzender Ami mit Steinen und Lehmklumpen den am Boden sich verteidigenden Russen bombardierte, während dieser mit denselben Geschossen versuchte, den Gegner vom Baum zu schießen (zu flaken); immer gewann der auf dem Boden Agierende. Wenn wir uns genügend bekriegt hatten, brieten wir gemeinsam eine Kartoffel auf einem kleinen Militär-Feldofen, der wie ein richtiger, großer Küchenherd konstruiert war.
Eines Tages, im Eifer des Spieles, vergaß mein Kumpel Klaus, rechtzeitig nach Hause zu gehen, um, wie üblich, seinen Vater zum Spaziergang zu führen. Diese Gänge waren notwendig, damit er die Wege im Dorf neu kennenlerne.
Seine Linke war, ob des ausschließlichen Gebrauchs, noch kräftiger als je zuvor, wie Klaus aufgrund seiner Verspätung schmerzvoll spürte. Er führte den Vater auf dem Thondorfer Weg zwischen den Äckern der damals noch existierenden werktätigen Einzelbauern bis an die Gleise der Schachtbahn.
Grausam listig führte Klaus mit der brennenden Wange seinen blinden Vater an einer Gabelung auf den falschen Pfad und ließ ihn nach einem Stück Weges mit einem »So, das hast Du nun davon« im knöcheltiefen Schnee stehen und rannte davon. Erst nach geraumer Zeit wurde der im Dunkel des Winternachmittages herumirrende Blinde gefunden und nach Hause geführt. Etwas mehr Zeit benötigte Klaus, um wieder mit mir Ami und Russe zu spielen.
Irgendwann waren Klaus und seine Eltern über Nacht verschwunden; sie waren rübergemacht.
Hoyers Holzbein
Der alte, gigantische Büssing-Bus mit der 230 Meter langen Motorhaube und einer sechs Kilometer langen Dieselfahne schleppte von Eisleben kommend seinen voll besetzten Personenanhänger in gefühlten zwei Stunden den Langen Berg hinauf.
Vorn in der Zugmaschine hockte einer der Passagiere schlafend auf seinem Sitz. Alle drei – Bus, Hänger und Passagier – waren brechend voll. Der Schlafende hatte sein rechtes, leeres Hosenbein mit einer Sicherheitsnadel oben am Hosenbund festgenadelt – das eigentlich in das Bein gehörende Bein wurde ihm in den Ardennen abgequetscht und ist inzwischen längst vermodert; der Krieg ist seit etwa acht, neun Jahren zu Ende. Sein Ersatzbein, aus festem, schön lackiertem Holz gefertigt, schlackerte in der letzten Zeit beim Gehen seitlich hin und her. Das war zwar saukomisch, aber nicht für ihn und es war der eigentliche Grund, in die Kreisstadt nach Eisleben zu fahren, um es dort beim Orthopädiemeister zur Reparatur abzugeben.
Danach ‑um sich die Zeit bis zur Rückfahrt zu verkürzen- steuerte er auf seinen Achselkrücken Hemmel Lüttichs Kneipe an. Er trank ein Bierchen und ein Körnchen und vielleicht nochmal dasselbe – wer weiß. Vielleicht aß er ja auch noch ein durches Stück vom Pferd. Er schien satt zu sein, voll sowieso – dafür war er bekannt in Siersleben.
Der Bus näherte sich Siersleben und einige Passagiere, die aussteigen wollten, drängten sich bereits durch den überfüllten Bus in die Nähe der Bustüren. Da auf dem Dorf Jeder Jeden kennt, rüttelte beim Halt des Busses ein Aussteigender den Schlafenden, der erschreckt auffuhr und sich erheben wollte. Das aber ging nicht so einfach: Das eine Bein war weit entfernt in einer Werkstatt und das andere, das er bei sich führte, war ihm eingeschlafen, hinzu kam die genussbedingte Standunsicherheit. Er war schlicht und einfach nicht imstande sich zu erheben, geschweige denn zur Tür zu gelangen. Verzweifelt versuchte er den Sitz zu verlassen und sein lautes Lamentieren führte letztlich dazu, daß er von kräftigen Kumpelarmen über die Köpfe der Passagiere hinweg wie ein zusammengerollter Teppich zur Tür durchgereicht wurde. Sein kräftiges Fluchen ging im tosenden Gelächter unter und im Nu fand er sich im Freien, auf dem Bordstein sitzend, wieder. Die drängelnden einsteigenden Passagiere nahmen nicht zur Kenntnis, daß der Einbeinige inzwischen seine im Gepäcknetz des Busses noch liegenden Achselkrücken vermißte und wie ein Berserker fluchte. Mit qualmendem Auspuff schaukelte der Bus inzwischen in Richtung Hettstedt weiter.
So kam es, daß der Einbeinige ‑an den Wänden der Häuser, die den Dorfplatz umstanden, entlang hüpfend- der gegenüberliegenden Kneipe Fleischauer zustrebte (die er später für zwei Jahre pachtete, aber, da er selbst sein bester Kunde war … usw), wo seine Zechbrüder ob seines wütenden Berichtes laut wieherten. Hier, unter Freunden, spülte er seinen Zorn hinunter.
Zur Polizeistunde organisierte die Trinkgemeinschaft den Heimtransport des nun nicht mehr des Hüpfens fähigen Einbeiners: Sie stellten ihn einfach auf eine Sackkarre, welche für die schweren, damals aus Holz oder Zink gefertigten und 25 oder 30 Flaschen fassenden Bierkästen gedacht war und ratterten mit ihm über das Kopfsteinpflaster der schmalen Friedrichstraße, den sogenannten Schingergrahm (Schindergraben), nach Hause.
Das Schwein im Keller
Mutter bereitete das Abendessen vor, als es gegen die geschlossenen Fensterläden klopfte und wir Großvaters Rufen hörten. Was ist wohl passiert? Weshalb wohl nimmt Opa bei diesem Wetter den Weg auf sich? Mutter schloß die Haustür auf, Opa nahm einen Kartoffelsack, der als Regenschutz diente und in der Art einer Kapuze Kopf, Schultern und Rücken bedeckte, ab, trat in die Küche, setzte sich. Vater stellte eine Flasche Schachtschnaps auf den Tisch und mit knapper Geste prosteten sie sich zu. Dann setzte Opa seine Pfeife mit dem bemalten Porzellankopf (Hund und Jäger) und dem durchlöcherten Nickeldeckel in Brand und meinem Vater das Problem auseinander:
Der Gemeindediener ‑von allen im Dorf nur Männe genannt und bekannt dafür, daß er hin und wieder nüchtern war und ansonsten mit einer bronzenen Handglocke durch das Dorf zog, um amtliche Bekanntmachungen zu verlesen- hatte sich in der Wirtschaft Zur Erholung des Nachbardorfes verplappert. Er tutete eine überraschend angesetzte Viehzählung in diesem Dorf für den nächsten Tag in die Kneipenluft, was in der Folge zu einem heftigen Stühlerücken bei den Gästen des Lokals führte.
In jener Nachkriegszeit wurden zwar in regelmäßigen Abständen Viehzählungen durchgeführt, allerdings wurden diese angekündigt. Man benötigte diesen Überblick zur Einschätzung der Ernährungssituation. Zudem waren die Behörden in der Lage, gezählte Hausschweine mit den im Jahresverlauf erfolgenden Anmeldungen von Hausschlachtungen abzugleichen. Auf diese Weise konnten Schwarzschlachtungen eingedämmt werden, denn angemeldete Hausschlachtungen führten zum zeitlich begrenzten Bezugsverbot von Lebensmittelkarten für Fleisch und Fett, je nach Anzahl der Familienmitglieder für mehrere Monate. Wurde schwarz geschlachtet, bezog man die Karten weiter.
Es galt also, Großvaters schwarzen Läufer zu verstecken.
Vater und Opa machten sich auf den Weg in das Nachbardorf, um das arme Schwein aus der Gefahrenzone zu holen. Sie begannen, das Tier in einen Maltersack zu stecken, welches aber nicht ohne Mühe zu bewerkstelligen war. Auf einem Handwagen wurde die Fuhre den Weg zurück gekarrt. Zu Hause sollte Großvaters Schwein unserem Gesellschaft leisten, bis die Zählung beendet war. Beim Entsacken kam der Läufer schnell auf seine Beine und im Schweinsgalopp ging es in den Hausflur. Der aber besaß einen gefliesten Fußboden…
Und so kam es, daß das Rüsseltier auf den Fliesen der zufällig offenstehenden Kellertür entgegen schlitterte und im Dunkel des Kellers verschwand. Dieser Treppensturz tat dem armen Tier nicht gut; es verletzte sich und quiekte laut. Es bestand die reale Gefahr, daß Nachbarn oder Straßenpassanten ‑es war schon spät in der Nacht- dieses Quieken hörten. Opa flößte dem Schwein eine halbe Flasche Schachtschnaps ein um es zu beruhigen, was auch gelang, aber nichts an der Notwendigkeit einer sofortigen Schlachtung änderte; es mußte ohne Verzug unter das Messer eines Fleischers, die es in jedem Dorf gab und die Hausschlachtungen von Schweinen neben ihrem eigentlichen Beruf durchführten. Mein Bruder wurde beauftragt schnellstens den Fleicher St. heranzuschaffen, welcher auch relativ kurzfristig mit seinem gesamten Schlachtgeschirr zu Hoftür hereinklapperte.
Eine Hausschlachtung in den fünfziger Jahren erforderte wochenlange Vorbereitungen, damit es ein richtiges Schlachtefest wurde: Es galt zum Beispiel beizeiten Einweckringe zu kaufen; allein das erforderte mehrere Fahrten mit dem Linienbus in die Kreisstadt. Aber man konnte nicht einfach sagen: »Ich möchte hundert Einkochgummis«, nein, in einem Konsum- oder HO-Geschäft erfragte man, was man möchte, also: »Hamm S’e Eingochjummis? « Wurde verneint, kaufte man eben was anderes – je nachdem was vorrätig war: Druckknöpfe, Schnürsenkel oder Hallorenkugeln und mußte es nächste Woche eben nochmals versuchen. Wurde bejaht, dann bekam man zehn Stück oder zwanzig – je nachdem.
Der schwierigste Part der Vorbereitung bestand in der Besorgung von Gewürzen. Salz war dabei das kleinste Problem und war auch ohne Lebensmittelkarten erhältlich. Majoran, Rosmarin, Kümmel und andere Kräuter sowie Zwiebeln wurden im Schrebergarten gezogen und waren auch verfügbar. Aber der Pfeffer… Um an ein halbes Pfund zu gelangen fuhr man am frühen Morgen mit der Reichsbahn nach Westberlin (Umsteigen in Güsten, Magdeburg und Griebnitzsee), um spät abends wieder auf dem heimischen Bahnhof anzukommen – wenn man Glück hatte. Hatte man dagegen Pech, wurde der Personalausweis eingezogen und man war Schmuggler. Man erhielt einen provisorischen Ausweis und wurde mindestens eine Nacht lang festgesetzt. Natürlich war auch die Schmuggelware futsch und damit auch das dafür aufgewendete Geld (Tauschkurs Ost zu West etwa 4…6:1). Den dabei abgenommenen Personalausweis konnte man sich Tage später wieder vom Dorfpolizisten abholen. Der Sierslebener hatte in der Lindenstraße seine Amtsstube und war ob seines umgänglichen Gemüts recht beliebt (was man von dem ihm einige Jahre später zur Seite gestellten, etwas bissigeren, nicht sagen konnte).
Neben Einweckgläsern, einer Molle für die Wurstmasse, jeder Menge kochenden Wassers zum Brühen der Schwarte und nachfolgendem Abschaben der Borsten, einer Leiter zum Ausnehmen und Ausbluten (das austretende Blut mußte kräftig gerührt werden, um eine Gerinnung zu vermeiden) benötigte man weiterhin eine Wanne zum Waschen der Därme und noch weitere Hunderte Gerätschaften.
Bei legalen Schlachtungen mußte ein amtlich bestellter Fleischbeschauer die Trichinenfreiheit auf der Schwarte blaugestempelt bestätigen. Für uns Kinder war das Schönste an einer Schlachtung, daß man einmal Wurst so richtig eikel essen konnte, also ohne störendes Brot, welches, wenn belegt, in Mansfelder Mundart als Bemme oder auch Bumme bezeichnet wurde.
Als in den frühen Morgenstunden das halbe Schweinetier durch Einweckgläser traurig ins Freie blickte und die andere Hälfte in die eigenen Därme gestopft war, machte sich der Fleischer ohne Hilfe wieder auf den Weg nach Hause. Ich erwähne das ‘ohne Hilfe’ deshalb, weil in aller Regel eine Schlachtung nicht nur eine Schlachtung schlechthin ist, sondern eben ein Schlachtefest. Und zu einem Fest gehört nun mal ein kräftiger Schluck aus der Pulle. Den benötigt auch ein Fleischer, um das Wurstbrät richtig abschmecken zu können. Aber aufgrund fehlender Gewürze einerseits und der gebotenen Eile der improvisierten Schlachtung andererseits fiel die Zeit für Derartiges sehr knapp aus. So kam es, daß er nach Haus ging und nicht ‑wie sonst öfter einmal- in einer Schubkarre nach Hause gefahren wurde.
Was blieb noch zu tun? Nun, die wenigen Brat‑, Leber- und Rotwürste sowie eine kleine Schlackwurst, die beiden sehr kleinen Schinken und die erschreckend dünnen Speckseiten, die das Schweinchen hergab, mußten konspirativ zur Räucherung in die Gartenstraße gebracht werden.
Später dann, wenn im Frühjahr zur Fliederblüte das erste Mal der Kuckuck zu hören war, schnitt Vater den Schinken an; so war es Brauch in Mansfeld.
Die im Waschkessel verbliebene Wurstsuppe wurde, ebenfalls konspirativ, im Laufe des Tages an vertrauenswürdige Nachbarn verteilt. Normalerweise war es so, daß bei einem Schlachtefest im Verlaufe des Vormittags Nachbarn unaufgefordert Milchkannen, Krüge und andere Gefäße brachten und sie abends, mit Wurstsuppe gefüllt, wieder abholten; Fässer wurden abgelehnt.
Je nach Vertrautheit und Sympathie des Nachbarn wurde mehr oder weniger Dickes hinzu gegeben – das Wurstbrät geplatzter Wurst, kleine Fleischbällchen, vom Knochen gelöste Fleischstückchen, Gewürze, die auf den Kesselgrund absanken und ähnliches. Die Wurstsuppe wurde entweder einfach getrunken oder aber man bereitete damit Nudelsuppe zu. Bei dieser hier geschilderten Schlachtung war die Wurstsuppe wegen knapper Gewürze etwas nüchtern, aber traditionsgemäß gab es zum Frühstück Knätzchen und zum Mittagessen Schwarzsauer mit Birnen, Hutzeln und Klößen.
Conny & Peter, Freddy und das Meer
In der Zeit, von der ich hier berichte, waren Filmprogramme DAS Medium, um Informationen zu einem bestimmten Film zu verbreiten. So ein Programmheft bestand aus zwei, drei gefalzten Doppelseiten ungehefteten Papiers – in der Größe irgendwo zwischen DIN A5 und A4 liegend. Im Programmheft wurden Schauspieler, Regisseure, Kameramänner usw. vorgestellt oder aufgezählt und ‑wichtig- die Handlung des Filmes wurde kurz umrissen. Das Ganze war eingebettet in Bilder des Filmes. Solche Programme waren sehr begehrt unter uns Teenagern – wenn sie aus dem Westen kamen. Allerdings waren Besitz und Verbreitung jeder Art von sogenannter »Schund- und Schmutzliteratur« gesetzlich verboten: Filmprogramme, Autogrammkarten, Romanhefte, Schallplatten, Presseerzeugnisse, Notenblätter, Comics, Abzeichen, Sticker, Buttons, Aufnäher, Abziehbilder – einfach alles.
Eines Tages, die Berliner Mauer stand noch nicht, ich ging in die achte Klasse, brachte meine Mitschülerin Roswitha einige westliche Film-Programmhefte mit zur Schule. Es waren Programme der damals üblichen seichten Musik- und Unterhaltungsfilme, wie zum Beispiel »Wenn die Conny mit dem Peter« und »Freddy, die Gitarre und das Meer« u.ä. Diese Hefte wollte ich mir von Roswitha ausleihen. In der Pause drückte sie mir konspirativ einen kleinen Stapel in die Hand. Darin blätternd ging ich langsam zu meiner Schultasche, um die Hefte darin zu verstauen, als die Klassentür aufflog. Ein Lehrer (den Namen habe ich nicht vergessen) schaute zur Tür herein: »Alles raus auf den Hof!»
Plötzlich sah er, daß ich ohne Arme im Klassenraum stand: »Was versteckst Du da auf dem Rücken?« – »Wer? … Ich? … Oooch … also … pfff … nischt …« – »Nein, nein, nein – zeig mal! Sofort! – na, wirds?!« Da ich schon immer der Schlauere war, mußte ich notgedrungen nachgeben und der Lehrer fand es »seeehr interessant«, was er da in seiner Hand hielt.
Er konnte einfach nicht an sich halten und unterrichtete pflichtschuldigst den Genossen Direktor – ein Pluspunkt mehr auf seinem Ergebenheits-Konto. Der Obergenosse wiederum legte die ungeheuerlichen Hetzblätter weisungskonform in die Hände der örtlichen, uniformierten Staatsmacht, die nun von Amts wegen gegen den Versuch der Destabilisierung der größten DDR der Welt vorgehen mußte (und wenn man ehrlich ist, erkennt man schon ein tückisches Funkeln in den Augen der Frau Froebes und des Herrn Kraus; und sein Soldatenhemd erst …).
So kam es, daß es am Abend an die Haustür klopfte. Mir war nicht wohl beim Öffnen. Der Uniformierte fragte nach meinem Vater und rief laut in den Flur »Willi! Bistde da?« Er war da. »Gomm rin, Willi« entgegnete mein Vater – beide waren Namensvettern. Sie waren aber auch Skatbrüder. Bei einem Schnaps berieten Willi & Willi über mein schweres Vergehen. Was folgte, war nächstentags ein »Aufkärungsgespräch bezüglich der Notwendigkeit des Kampfes gegen Schmutz und Schundliteratur« und im Wochenverlauf ein Aufsatz: »Nenne Beispiele von Boykotthetze der Schergen des Adenauerstaates«. Beim Hinausgehen schüttelte der Polizist seinen Kopf: »Du Dutz!«
Eine Weinprobe
Es war weitverbreitete Sitte im Mansfelder Land ‑zumal in damaliger Zeit- sich seinen Hauswein aus Obst oder auch ‑wenn man hatte- aus Trauben selbst zu keltern; … jaadoch, ja, ich weiß, auch Schnaps wurde hin und wieder schwarz gebrannt. Schließlich war nicht jeder ein Bergmann, der seinen Deputat-Bergarbeiter-Trinkbranntwein nicht gerade in Finkennäpfchen bekam.
Und ja, auch Tabak wurde selbst angebaut, nach der Ernte auf Fäden gezogen, unter den Dachsparren zum Trocknen aufgehängt, um dann, wenn er getrocknet, in feine Streifen geschnitten wurde, um ihn letztlich zu verbrennen.
Und nochmals ja: Großvater bekämpfte Zahn- und andere Schmerzen auch schon mal mit Mohnprodukten; irgendwo, hinter fast jeder Gartenlaube, standen ein paar Stengelchen – ganz hinten zwischen den Johannisbeeren.
Eines Tages ritt mich der Teufel und ich erzählte meinen Kumpeln, daß meine Eltern für zwei, drei Tage zu einer Familienfeier unterwegs seien. Das hätte ich besser unterlassen, denn abends rottete sich die ganze Clique (wir sprachen es Gklinke aus) ‑etwa ein Dutzend Halbstarker- zusammen und begehrte lärmend Einlaß ins altenfreie Haus. Ein kleines Bierfäßchen, bei Karl Höcke erstanden, hatte man dem starken Erwin, genannt Jolly, auf die Schultern gehievt, den das nicht weiter störte und der mit der freien Hand ruhig seine Casino weiterrauchte. Bevor nun aber das Bier schlecht wird … also öffnete ich die Haustür und suchte einen Spundhahn (einige dieser Dinger hatten im Hause die Zeit überdauert, denn um 1900 herum war ein Teil unserer Wohnung noch Schankstube).
Es wurde ein lustiger Abend und das Fässchen leerte sich so nach und nach. Auf der Suche nach weiterem Trinkbaren schreckten meine Kumpel vor einer Kellerdurchsuchung nicht zurück und etwas Obstwein wurden aus einem Ballon in einen Krug abgezogen und nach oben befördert.
Weil Bier und Wein ja irgendwann auch wieder ins Freie drängen und man, wenn man nachgab, bei uns zu Hause durch die Waschküche in den Hof gehen mußte, fiel der Bande ein weiterer in der Waschküche stehender Weinballon ins Auge. Man beschloß, den Inhalt einer Weinprobe zuzuführen, obwohl zu sehen war, daß er sich noch in Gärung befand und deshalb auch noch nicht geklärt. Kurzum, es gelang, die ganze Rotte davon abzuhalten, sich an diesem Wein zu vergreifen – fast, jedenfalls. Irgend jemand meinte, daß sich wohl zu wenig Hefe im Ballon befände und begann den Inhalt einer zufällig dort stehenden Tüte, brabbelnd und von Hicksern unterbrochen, in den Ballon zu füllen.
Im weiteren Verlaufe der Nacht verschwanden endlich alle wieder und ich blieb allein mit eingesauter Tischdecke, verstreuter Zigarettenasche, Bernds Zigarettenetui, Wolfgangs Puck (ein kleines Transistorradio), Ernst’s zertretener Sonnenbrille, einem Elvis-Sticker, einem leeren Bierfass und einem Kater.
Im Verlauf des Morgens bemerkte ich, daß der auf dem Fensterbrett stehende Weinballon mit Spinat gefüllt schien – vorsichtig roch ich daran und schmeckte mit dem Finger – Oh Gott.
Als meine Eltern zwei Tage später zurück waren, schüttelte mein Vater beim Abendessen ungläubig seinen Kopf und konnte es immer noch nicht fassen, daß man, wenn der Wein nicht klar werden will, etwas hinein schütten müsse. In meiner Erklärungsnot hatte ich ihm, als er bei der Rückkehr den grünen Bodensatz im Ballon sah, etwas von Kondensationskeimen und Ausfällen erzählt (ein Danke an Kurt Klos, unseren Chemie-Lehrer); der Wein war klar wie Bienenhonig im Goldkelch und schmeckte nur ganz wenig nach Majoran.
Die Regentonne
Eines Tages flog aus einem Personenwagen der Deutschen Reichsbahn ein aus grauem Segeltuch gefertigter Schuh auf den Bahnsteig des Sierleber Bahnhofes. In dem Schuh stak ein Zettel, auf dem folgende Botschaft notiert war: »Heinz Sch. lebt. Er ist in Gronenfelde. Wird bald entlassen.« Den Schuh warf Heinz’ Kriegskamerad, welcher aus dem Heimkehrerlager Gronenfelde in einen Zug Richtung Kassel verfrachtet wurde, weil er ja nun irgendwo in der amerikanischen Zone zu Hause war, aus dem Abteilfenster.
Heinz kam dann im Spätsommer 1950 aus Gefangenschaft zurück. Der Krieg war bereits fünf Jahre vorbei und er war noch keine Dreißig. Arbeit zu finden, war dazumal nicht das Problem. Obwohl eine teilweise gelähmte und verkrüppelte Hand nicht jede Arbeit erlaubte, fand er sein Auskommen auf dem Hettstedter Walzwerk. Eines Tages, kurz vor Weihnachten, rollte Heinz ein leeres Benzinfass durch Siersleben in den Schrebergarten seiner Eltern.
Das Schrebergartengelände in der Klostermansfelder Straße wurde zum freien Feld nach Thondorf hin vom Friedhof begrenzt. Es handelte sich hierbei um enteignetes Land und dessen ehemaliger Eigentümer L. teilte sein ihm verbliebenes Wohnhaus ‑ebenfalls in der KlostermansfelderStraße- mit den Überlebenden der zwei Flüchtlingsfamilien B. und K. .
Obst und Gemüse aus den Schrebergärten trugen nicht unerheblich zur Verbesserung der Lebenslage der Siersleber bei. Schwierig wurde es beim Bewässern des Bodens. Ein vor den Gärten liegender Graben führte zwar Wasser, aber sehr wenig und das auch noch unregelmäßig, so daß die Pächter das Gießwasser entweder in Eimern oder im Faß auf dem Handwagen durch das Dorf schleppen mußten – sehr mühsam.
Also – das Bezinfass. Es sollte als Regentonne dienen und das von dem Zwei-Quadratmeter-Geräteschuppen rinnende Wasser auffangen, um so den Johannisbeeren und dem Braunkohl ein wenig mehr Glanz zu verleihen.
Trotz seines Handicaps entfernte Heinz in tagelanger Arbeit den Oberboden des Fasses, reinigte es innen so gut wie möglich, teerte es außen und hub eine Grube aus, um das Fass darin zu versenken – mit dem oberen Rand vielleicht knöchelhoch über dem Boden. Schließlich brachte er noch eine zusammengeflickte Regenrinne an. Die Arbeit war getan und das Fallrohr der Regenrinne konnte beim nächsten Regen das Faß speisen.
Niemand war dabei, keiner weiß weshalb: Irgendwie muß Heinz in seine neue Regentonne hineingestolpert sein, vielleicht ist ihm auch etwas hineingefallen.
Vielleicht hat er ja anfangs das kleine Mißgeschick gelassen gesehen – schließlich hatte er die Stalinorgeln an der Ostfront und anschließend die Plackerei des Arbeitslagers in der Kälte Sibiriens überlebt.
Aber irgendwann muß er in Panik verfallen sein, als er feststellten mußte, daß es ihm nicht gelang, seine oben ‑wahrscheinlich komisch aussehend- herausragenden Beine hineinzuziehen um sich in der engen Tonne umzudrehen und aufzurichten. Kopfunter steckte er in der Tonne fest – gestützt auf eine gesunde und auf eine halb gelähmte Hand. Er war offensichtlich auch nicht in der Lage sich an der inneren, schmierigen und glatten Wand nach oben zu stemmen – wie auch? Nach vielen Versuchen wird er versucht haben, seine Handgelenke zu entlasten und sich auf den Unterarmen abzustützen. Wie lange wohl? Niemand hörte sein wahrscheinlich anfängliches, kräftiges Fluchen, das mit Sicherheit in Hilfeschreie übergegangen sein mußte und keine Menschenseele nahm sein Wimmern war, als nach Stunden ein leichter Landregen einsetzte. Langsam begann aus dem Fallrohr ein dünner Faden Wasser zu rinnen…
Hennings Fehlschluß
An Kanalisation war, wie ich bereits an anderer Stelle berichtete, damals noch nicht zu denken. Ein jeder schüttete seine Abwässer einfach in den Rinnstein ‑die Gosse. In Haushalten, in denen Vieh gehalten wurde, konnte die Menge der anfallenden Gülle (kein Mansfelder spitzte die Lippen, um ein solches Wort auszusprechen, es war einfach Jauche) – also, die Menge der anfallenden Jauche konnte ein Problem werden. War man Bauer, hatte man ‑sozusagen von Berufs wegen- genügend Ackerfläche, um die Jauche auszubringen. War man kein Bauer, besaß aber einen Garten oder war Eigner oder Pächter eines halben Morgen Landes, war zwar die Menge der Jauche kein Problem – aber deren Transport. Man mußte zum Bauern gehen und sich einen Jauchewagen samt Pferd ausleihen oder mieten. Ein solcher Jauchewagen stand auf der leicht abschüssigen Schulstraße, aber nicht am Vogelsberg, wie das eine Ende der Straße genannt wurde, sondern am entgegengesetzten Ende, dort, wo der Weg nach Hübitz beginnt.
Dort in Hübitz wurde jährlich ein Volksfest veranstaltet. Zwischen Gutsmauer und einer riesigen Feldscheune (auch in ihrem Inneren) waren diverse Buden, Karussells und sonstige Lustbarkeiten aufgebaut, deren Angebote von den Bewohnern der umliegenden Dörfer sehr gern angenommen wurden.
Auf dem Wege zu eben diesem Volksfest waren zwei Schulfreunde ‑Henning und Helmut- unterwegs, als sie an besagtem Jauchewagen vorbei kamen. Beide überlegten, warum er hier stand, wer ihn hierher gestellt, welcher Bauer der Eigentümer sei und auch, ob das Fass denn wohl gefüllt sei. Henning, der augenscheinlich Kräftigere, umfaßte die Deichsel und bewegte sie hin und her und befand, daß die hölzerne Tonne leer sein müsse, die Deichsel war nicht eben übermäßig schwer zu bewegen.
Hhmm … Helmut pusselte, einen Lutscher zwischen seinen von blitzenden Spangen zur Ordnung gezwungenen Zähnen, am Schieber des Auslaufs und versuchte schließlich ‑einfach nur mal so und ohne Not- mit einem halben, umherliegenden Ziegelstein, den Verschluß nach oben zu schlagen. Der Versuch glückte.
Unter hohem Druck schwallte die Brühe aus dem Ausfluss der Tonne, das wäre ja noch auszuhalten gewesen, nein – sie tat darüber hinaus noch das, wozu sie vom Prallverteiler unter dem Ausfluss gezwungen wurde: Die Jauche spritzte exakt halbkreisförmig und im fünfundvierzig-Grad-Bogen aufwärts und versaute alles: Herschels Hauswand samt Fenster und Türen sowie Bürgers kleine Loggia auf der anderen Straßenseite. Und natürlich Helmut. Er bekam die volle Dröhnung aus grün-braun-gesprenkeltem und duftendem Glibber zwar nicht direkt in das Gesicht, sondern von oben auf Haare, Schultern und Kleidung. Durch die Wucht des Jaucheschwalls und wohl auch vor Schreck fiel er rückwärts um und krabbelte mit blitzschnell arbeitenden Händen und Füßen aus dem Platzregen, welches sehr komisch war. Für andere.
Ein Schließen des Schiebers war unmöglich, man mußte etliche Minuten warten, bis das Faß seinen Inhalt entleert hatte. Die abschüssige Straße tat ein Übriges um denselben gleichmäßig abwärts zu verteilen. Henning, immer noch an der Deichsel stehend, war überrascht ob seiner Körperkraft.
Obige Geschichten beruhen im Großen und Ganzen auf wahren Begebenheiten, auch wenn einige unbedeutende Einzelheiten vielleicht hier und da etwas nachgefärbt wurden. Die Geschichten trugen sich in der Zeit nach dem II. Weltkrieg zu – einer Zeit, die heute so unendlich lange her scheint.
Hier können Sie mehr erfahren, wie das tägliche Leben in dieser Zeit funktionierte; einer Zeit zwischen zwei Diktaturen: Dem gerade niedergegangenem Faschismus und der sich bildenden DDR.
Erinnerungen: Meine 50er in Siersleben
Ich bin fasziniert von den Geschichten und kann vieles nachvollziehen! Auch wenn ich etwas jünger (Geburtsjahr 1953) bin, ist das Erzählte so realistisch und man fühlt sich zurückversetzt, es kommen so viele Details wieder zutage, ich kann Umfängliches nachvollziehen!
Bin meinem Geburtsort bis auf das Studium in Magdeburg treu geblieben, habe mir hier mit Mann und Töchtern unser Leben aufgebaut. Kinder sind aus dem Haus, Enkelkinder gehören dazu, Schönes und Trauriges bestimmten und bestimmen das Leben. Es ist einfach bewundernswert, so viel Interessantes über meinen Geburtsort Siersleben lesen zu dürfen.
Beste Grüße
Gudrun Wüste geb. Leye
Schulzeit: 1960 ‑1968 POS Siersleben
dann EOS Eisleben
Na sicher, Wolfgang, kenne ich Herschel noch (auch seinen Vater, der ‑klein aber kräftig- Weichenzungen zurecht hämmerte) – aber weshelb hast Du ihm vorgelesen?
kennst du noch Herschel Iseke? habe ihn das alles gerade vorgelesen
w.huke